Am meisten fehlt Tiana* ihre kleine Schwester. Zu ihr hatte sie ein inniges Verhältnis. Nun kann sie keine Zeit mehr mit ihr verbringen, nicht mit ihr reden oder spielen, ihr nicht mal etwas zum Geburtstag schenken. Der Preis, den sie für ihre Freiheit bezahlt, ist hoch.

Tiana ist 19 Jahre alt, eine hübsche und selbstbewusste junge Frau. Sie ist seit ein paar Jahren in der Schweiz und hat die Sekundarschule erfolgreich abgeschlossen. Ihre Eltern hatten ihr schon während der Schulzeit viele Vorschriften gemacht, aber als sie eine Lehre begann und etwas eigenes Geld verdiente, hing der Haussegen so richtig schief. Arbeit, Berufsschule und Musikschule waren die einzigen Orte, wo sie sich aufhalten durfte. Den Rest ihrer Zeit sollte sie zu Hause verbringen. Als sie um mehr Freiheiten kämpfte, sagten die Eltern, sie müsse sofort die Lehre abbrechen, möglichst bald heiraten und Hausfrau werden.

Freunde meldeten den Fall bei der kantonalen Opferhilfe. Diese bot Tiana eine Notunterkunft an. Tiana lehnte ab. Sie wollte der Familie nochmal eine Chance geben, obwohl sie zu Hause entweder geschnitten oder angeschrien wurde. Der jüngere Bruder hatte sie schon mehrmals geprügelt, ihr Vater sogar zum Gürtel gegriffen. Auch im Hochsommer ging Tiana mit langärmeligen Kleidern zur Arbeit, um die Blutergüsse zu verstecken.

Wenige Wochen später hielt sie es nicht mehr aus und floh. Seither wohnt sie bei Freunden. In einem unbeobachteten Moment holte sie – mit Polizeischutz – ihre Sachen aus der Wohnung der Eltern und übergab den Schlüssel der Polizei. Weil ihr Vater sie dann bei der Arbeit abpasste und mit dem Tod bedrohte, fühlte sie sich auch dort nicht mehr sicher. Wie durch ein Wunder gelang es ihr, innerhalb weniger Tage einen neuen Ausbildungsbetrieb zu finden – in einer anderen Stadt.

Im Moment besteht ein polizeilich angeordnetes Kontakt- und Annäherungsverbot, und Tiana fühlt sich einigermassen sicher. Sie will auf keinen Fall zurück. Trotzdem hätte sie es sich anders gewünscht. Sie schätzt die Begleitung und Ermutigung, die sie durch unsere Beraterin erhält. Aber sie vermisst ihre kleine Schwester.

*Name aus Sicherheitsgründen geändert, Symbolbild

Aktuelle News

Ihre Privatsphäre ist uns wichtig. Diese Seite verwendet Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Durch die weitere Nutzung der Seite stimme ich der Verwendung von Cookies zu.

Datenschutzerklärung