Der Familienclan lauert überall
Melek und Cem* sind 19 Jahre alt und verliebt – gegen den Willen ihrer Eltern. Melek wird von ihren Eltern ins kurdische Dorf zu den Grosseltern geschickt und soll einen Verwandten heiraten. Cem sagt, sein Familienclan umfasst mindestens 5’000 Personen. Beide stammen aus sehr einflussreichen Familien. Sie wehren sich gegen die Traditionen und fliehen. Erst mal nur von der Südtürkei nach Istanbul. Dort werden sie bereits gleichentags von der Flughafenpolizei abgefangen. Ihre Eltern würden sie suchen, heisst es. Als Melek und Cem ihre Situation erklären, lässt man sie gehen. Sie sind ja volljährig. Doch selbst im Kosovo werden sie von der Familie aufgespürt. Ihre gemeinsame Flucht geht deshalb weiter. Im Herbst 2023 erreichen sie die Schweiz. Mittlerweile haben sie nicht nur ihre Familien hinter sich gelassen, sondern auch den Islam. Melek und Cem lesen in der Bibel und besuchen eine Kirche. Sie bitten die Seelsorger des Asylzentrums um Hilfe. Diese verweisen das junge Paar an uns.
Das Erstgespräch im Februar ergibt, dass der Asylantrag von Melek und Cem bereits in zweiter Instanz abgelehnt worden war: Die beiden könnten keine Flüchtlingseigenschaft vorweisen, und eine Rückführung ins Heimatland sei zumutbar und durchführbar.
Als Verein verfügen wir über ein gutes Netzwerk, selbst bis in die Türkei, und könnten dort mindestens für die erste Zeit eine sichere Unterkunft und einen Anwalt stellen. Dies war jedoch für die beiden keine Option. Zu gross sei die Verwandtschaft, zu gross die Gefahr, entdeckt zu werden. Lieber wollten sie in ein anderes europäisches Land weiterreisen und dort erneut Asyl beantragen – selbst wenn dies laut Dublin III eigentlich erfolglos ist. Schon nach wenigen Tagen kontaktierten die beiden uns aus einem Nachbarland. Wir können sie dort zwar nicht mehr direkt unterstützen, aber mindestens ist es uns gelungen, sie erneut mit Einheimischen zu vernetzen, die sogar Türkisch sprechen. «Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie uns so sehr geholfen haben,» schreibt Cem per WhatsApp.
*Namen aus Sicherheitsgründen geändert, Symbolbild