Leben in ständiger Angst
Özlem* weint. Wir sitzen in einem sonnendurchfluteten Zimmer einer psychiatrischen Klinik. Özlem ist vor zehn Monaten aus der Türkei in die Schweiz gekommen. Sie leidet unter Schlafstörungen und Halluzinationen. Deswegen ist sie seit einigen Wochen in der Klinik. Schluchzend erzählt sie ihre Geschichte.
Özlem kommt aus einer sehr traditionellen kurdischen Familie. Als Mädchen durfte sie nicht alleine nach draussen. Immer musste ein männlicher Familienangehöriger sie begleiten. Sogar als sie als Anwaltssekretärin arbeitete, durfte sie den Weg zum Büro nicht alleine gehen. Vor zwei Jahren wollten die Eltern, dass sie einen Cousin heiratet. Özlem weigerte sich. Es gab Streit, die Eltern sperrten sie zu Hause ein und verprügelten sie. Wenig später sollte sie einen anderen Verwandten heiraten. Özlem flüchtete zu ihrer älteren Schwester. Diese war einige Jahre zuvor auch zwangsverheiratet worden und ist sehr unglücklich in ihrer Ehe. Die Eltern beschimpften Özlem am Telefon und drohten mit dem Tod. Von der Polizei wurde sie zunächst weggeschickt, dann an ein Frauenhaus verwiesen. Aber genau dort hatte die Familie vor ein paar Monaten ihre Cousine gefunden und sie grün und blau geschlagen. Schliesslich riet ihr die Schwester zur Flucht in die Schweiz. Dort hätten die Frauen mehr Rechte.
Özlem schaffte den schwierigen Fluchtweg und schilderte ihre Geschichte in der Asylanhörung. Vor kurzem hat sie Post aus Bern erhalten: Ihr Asylgesuch wurde abgelehnt. Özlem ist verzweifelt. Sie wünscht sich nichts sehnlicher als ein bescheidenes Leben in Freiheit und Sicherheit. „Könnt ihr mich verstecken?“, fragt sie.
Natürlich können wir niemand zu einem illegalen Aufenthalt verhelfen. Aber wir nahmen sofort mit der fallführenden Anwältin Kontakt auf, um die Argumentation für den Rekurs zu besprechen. Und wir vernetzten sie mit hilfsbereiten Menschen vor Ort, die sie aus ihrer Einsamkeit holen. Nun hoffen wir gemeinsam auf ein mildes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts.
„Es ist ja nur die Familie…“ Özlems Todesangst bleibt unverstanden. Sie verzweifelt bei dem Gedanken, dass bald die Polizei kommen könnte, um sie unter Zwang in die Türkei zurückzuschaffen. Lesen Sie dazu auch den Artikel https://www.sabatina-schweiz.ch/es-ist-doch-nur-die-familie/
*Name aus Sicherheitsgründen geändert, Symbolbild