Sie wollen einfach nur Kind sein – doch sie haben keine Wahl: In Deutschland leben Hunderte Minderjährige in Kinderehen – oft weil sie von ihren Eltern dazu gezwungen werden und die Behörden überfordert sind. Über das stille Leid der Mädchen, die Ja sagen müssen, und wie wir es lindern.Aylin (Name geändert) war eine gute Schülerin, sie hatte Freunde, viele Hobbies. Doch von einem auf den anderen Tag verschwand die 16-Jährige einfach, kam nicht mehr zur Schule, ging nicht mehr an ihr Handy. Ihre Lehrerin hatte einen schrecklichen Verdacht: Schon zuvor machten Gerüchte an der Schule die Runde, Aylins streng religiöse Eltern wollten die Tochter zwangsverheiraten.Die Lehrerin versuchte alles, um ihrer Schülerin dieses Schicksal zu ersparen. Sie telefonierte, schaltete Schulleitung und Jugendamt ein – vergebens. Ein paar Tage nach Aylins Verschwinden entdeckt ihre ehemalige Lehrerin Bilder der 16-Jährigen auf Facebook – im Brautkleid, mit Schleier und einem Mann an ihrer Seite, den sie zuvor nur einmal am Telefon gesprochen hatte.
813 Kinderehen wurden gemeldet – aber nur elf aufgehoben: Wie kann das sein?
Es sind Fälle wie diese, die Monika Michell aufrütteln. Sie kämpft bei der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes gegen Zwangsverheiratung und Ehrverbrechen und weiß: Arrangierte Kinderehen wie der 16-Jährigen Aylin sind beileibe kein Einzelfall – auch nicht bei uns: „Wir gehen davon aus, dass in Deutschland jede Woche eine Minderjährigen-Ehe geschlossen wird.
Wie kann so etwas sein?
Eigentlich gibt es seit 2017 ein Gesetz, das junge Mädchen und Frauen gerade davor schützen soll, gegen ihren Willen in arrangierte Ehen gezwungen zu werden. Das „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ legt das Mindestalter zur Heirat ohne Ausnahme auf 18 Jahre fest. Außerdem sieht es vor, dass Ehen, die zum Beispiel im Ausland geschlossen wurden, von einem Richter aufgehoben werden, wenn die minderjährigen Partner bei der Hochzeit 16 oder 17 Jahre alt waren. Eheschließungen unter 16 Jahren sind sogar generell unwirksam.„Diese Regelungen sind in der Praxis noch gar nicht angekommen. Viele Behörden wissen überhaupt nicht, wie das Gesetz umzusetzen ist“, sagt Monika Michell von Terre des Femmes. Die Organisation hat 2019 eine Studie zu dem Phänomen durchgeführt. Die erschütternde Bilanz: Seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes wurden deutschlandweit 813 Ehen mit Minderjährigen gemeldet. Nur zehn davon wurden allerdings aufgehoben.
In Wirklichkeit noch viel mehr Fälle? „All das findet unter dem Radar der Behörden statt“
Auch das Bundesjustizministerium muss in seiner jüngsten Evaluierung des Gesetzes vom August eingestehen: „Seit Inkrafttreten des Gesetzes […] gab es ausweislich der Rückmeldungen der Landesjustizverwaltungen insgesamt lediglich ca. 104 Verfahren auf Aufhebung einer Ehe wegen Minderjährigkeit. In lediglich 11 Fällen wurde die Ehe antragsgemäß aufgehoben.“Terre des Femmes geht indes davon aus, dass in Deutschland in Wirklichkeit noch wesentlich mehr Minderjährige verheiratet werden oder in Kinderehen leben, als bislang bekannt. „All das findet weitgehend unter dem Radar der Behörden in den entsprechenden Communities statt. Es reicht, vor einer großen Anzahl an Zeugen das Eheversprechen zu geben und ins Haus des Mannes gebracht zu werden. Es braucht gar kein staatliches Sigel“, berichtet Michell. Zudem würden viele Bundesländer gar keine Statistiken zu der Problematik führen. Dass ein Mädchen minderjährig ist, komme so manchmal erst ans Licht, wenn zum Beispiel die Geburt des Kindes im Standesamt registriert wird.Viele Minderjährigen-Ehen wurden dabei bereits im Ausland geschlossen. „Oft heiraten die Mädchen, weil es für sie und ihre Familie der einzige Ausweg aus der Armut ist. Die Eltern sagen ihren Töchtern dann: Wir können dich nicht mehr ernähren, es wäre das Beste für dich, wenn du jetzt heiratest“, berichtet Michell. Viele Mädchen würden dann in die arrangierte Ehe einwilligen, weil sie ihrer Familie helfen wollen. „Wenn sie dann in Deutschland sind, wissen die meisten gar nicht, dass das Gesetz hier auf ihrer Seite ist“, so die Referentin
Zwangsehen in Deutschland: „Es ist das abrupte Ende ihrer Kindheit“
Doch auch Eltern, die schon seit Jahren oder Jahrzehnten in der Bundesrepublik leben, verheiraten ihre Kinder gegen ihren Willen: „93 Prozent der Betroffenen sind Mädchen, 98 Prozent haben einen Migrationshintergrund“, berichtet Michell. Sie würden entweder unter Androhung von körperlicher Gewalt oder sogar Mord in die arrangierte Ehe gedrängt oder subtil hineingezwungen. „Die Mädchen wissen nämlich, dass ihre jüngeren Schwestern dran glauben und den auserkorenen Ehemann heiraten müssen, wenn sie selbst fliehen“, so Michell.Auch deshalb knicken viele Mädchen und junge Frauen unter dem Druck ihrer Familien ein. Die Konsequenzen einer Früh-Ehe sind indes oft gravierend. „Nach der Heirat gehört die Frau dem Ehemann und hat die Rolle als zukünftige Mutter und Hausfrau zu erfüllen. Deshalb gehen Betroffene auch häufig nicht mehr in die Schule und brechen ihre sozialen Kontakte ab“, berichtet Michell.Viele Mädchen litten unter Gewalt durch ihre erwachsenen Ehemänner. Hinzukommen gesundheitliche Gefahren zum Beispiel durch Teenager-Schwangerschaften. „Wenn Sie so wollen, bedeutet eine solche Ehe für Betroffene das abrupte Ende ihrer Kindheit“, bilanziert die Frauenrechts-Expertin. Am häufigsten betroffen seien in Deutschland bisher junge Mädchen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, aber auch aus der Türkei und sogar Bulgarien.
Betroffene lassen Ehen nicht aufheben: „Sie wissen, was ehrenlosen Frauen droht“
Eigentlich hätten die Betroffenen in Deutschland die Möglichkeit, sich aus ihren arrangierten Ehen zu befreien. Doch dass hierzulande so viele Mädchen und junge Frauen in ihren Früh bleiben, hat einen Grund: Viele kennen entweder ihre Rechte nicht – oder sie fürchten, das Ansehen ihrer Familie zu verlieren, erklärt Michell: „Die Mädchen wissen, was ihnen als ehrenlosen Frauen dann droht. Es kann sehr gefährlich für sie werden.“Das führt wiederum dazu, dass die wenigen Fälle, die tatsächlich zur Verhandlung vor Gericht kommen, nicht zur Aufhebung der Ehen führen. Denn anstatt sich aus dem Arrangement zu befreien, bestätigen die allermeisten Betroffenen ihre Ehen, wenn sie 18 Jahre alt sind, so die Erfahrung von Terre des Femmes. Die Behörden sind dann machtlos. „Wie es den jungen Frauen in ihren Ehen ergeht, interessiert sie dann nicht mehr“, so Michell.„Wir haben also nur das sehr kleine Zeitfenster zwischen Eheschließung und Volljährigkeit, in dem wir aktiv werden können“, erklärt die Referentin. Diese Schwachstelle im neuen Gesetz führt dazu, dass Behörden sogar oft überhaupt kein Verfahren mehr einleiten, wenn eine Betroffene zum Beispiel schon 17 Jahre und 8 Monate alt ist und ankündigt, die Ehe bestätigen zu wollen. Die Ehe-Aufhebung werde dann häufig einfach ausgesessen.
Zwangsehen: „Wir müssen bei den patriarchalischen Eltern ansetzen“
Dass Mädchen und junge Frauen – aus Angst oder Unwissen – in ihren arrangierten Ehen festsitzen, will Terre des Femmes unter alle Umständen verhindern. Die Organisation fordert unter anderem mehr finanzielle Unterstützung für Jugendämter und Beratungsstellen. Doch auch die Behörden bräuchten dringend Schulungen im Umgang mit dem Thema.„Viele Behörden leiten die Verfahren ungesehen ans Gericht weiter, anstatt mit den Betroffenen ein aufklärendes Gespräch zu führen oder ihnen Bedenkzeit zu geben. Und es verwundert kaum, wenn junge Frauen im Gerichtssaal dann ihre Ehe bestätigen, weil sie nicht ernsthaft über die Alternativen zu ihrem Leben in der Kinderehe informiert wurden“, erklärt Michell.Um das stille Leid Hunderter Jugendlicher und junger Frauen zu lindern, müssen jedoch nicht nur die Behörden lernen. Wer das Problem an der Wurzel anpacken will, „der muss die überkommenen patriarchalischen Vorstellungen von Ehre und Frauenrechten in den betroffenen Communities überwinden“, fordert Michell. Terre des femmes setzt zum Beispiel in Berlin Multiplikatoren aus den betroffenen Communities ein, die die Frauen zu Themen wie Zwangsehe und Genitalverstümmelung aufklären. Und um schon die Jüngsten zu sensibilisieren, hat die Frauenrechtsorganisation ein Theaterprojekt an mehreren Schulen gestartet.
Sensibilisierung für den Nachwuchs: „Ist es schlimm, wenn deine Schwester abends mal alleine weggeht?“
„Wir machen das kindgerecht und arbeiten mit Fragen wie: ‚Wäre es denn wirklich schlimm, wenn deine Schwester abends mal alleine weggeht?‘, ‚Ist es nicht okay, wenn sie auch einen Jungen im Freundeskreis hat?‘ oder ‚Kannst du dir vorstellen, dass deine zukünftige Frau einmal selbst Geld verdient?‘“„Manchmal hören wir da ganz irre Sachen – von Kindern und Jugendlichen wohlgemerkt“, sagt Monika Michell. Doch wer Kinderehen in Zukunft verhindern will, müsse eben schon bei den Kindern ansetzen – und verhindern, dass sie die Vorstellungen von der Rolle der Frau von ihren eigenen Eltern übernehmen.
05.10.2021, Focus.de
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