Benjamin Roschs Bericht in der Thurgauer Zeitung vom 01.07.2020 zeigt deutlich, wie schwierig das Thema Zwangsheirat für die Schweizer Justiz ist. Denn nicht selten halten die Opfer dem Druck der Verwandtschaft nicht stand.
Erstmals befand ein zweitinstanzliches Gericht über die Straftat Zwangsheirat. Der Fall zeigt die emotionale Komplexität dieses Verbrechens. Die Geschichte zweier Schwestern aus Basel.
Hatice muss das Schicksal ihrer älteren Schwester mit Angst verfolgt haben. Doch ein Aufbegehren liess dieser nicht zu. Immer schlimmer wurde die Situation für sie, als sie einen Mann kennenlernte: den in Italien lebenden Ismail*, ebenfalls Türke. Schon in den ersten Wochen der sich anbahnenden, geheim gehaltenen Beziehung kam es zu Übergriffen. Als sich Hatice von ihm abwandte, versuchte dieser, sie zu vergewaltigen. Belegt sind zudem Kurznachrichten, in denen er ihr offen drohte, sie umzubringen. Als die Familien schliesslich von der verwirkten Beziehung Wind bekamen, änderte sich die Situation von Hatice abermals zum Schlechten: Nun wollte sie der Vater zu zwingen, den Mann zu heiraten.
Flucht, Zeugenschutz, Anzeige
Zu einer Heirat kam es aber nie. Denn als die Maturprüfungen und damit auch der Sommer nahte, flüchteten die beiden Frauen zusammen, brachen den Kontakt zur Familie ab und lebten im Zeugenschutz. Sie zeigten die gewalttätigen Männer an und das Strafgericht verurteilte sie alle. Den Vater unter anderem wegen Zwangsheirat, als einen der ersten Menschen in der Schweiz überhaupt. Doch er zog das Urteil weiter, wie auch Ismail, dessen Aufenthaltsort unklar ist. Und damit mussten Fatma und Hatice ihren Widerstand gegen die Familie und ihre Vorstellungen von Ehre aufrechterhalten.
Vielleicht war das zu viel Druck für die beiden Frauen, für die es nie einen Lebensplan zur Eigenständigkeit gegeben hatte. Vielleicht sorgten sie sich auch um den jüngeren Bruder, der schwer behindert ist. Oder vielleicht versöhnten sie sich auch tatsächlich mit dem Vater, der plötzlich keine Schuld mehr tragen soll an den ganzen Geschehnissen, die Fatma und Hatice mit allem hatten brechen lassen: ihrer Familie, ihren Freunden, ihrer Zukunft. So ganz wird am Mittwoch nicht deutlich, weshalb die beiden jungen Frauen alles in Abrede stellen, was sie dem Familienoberhaupt vorgeworfen hatten.
Ein aus mehrerer Sicht bemerkenswerter Fall
Es ist inzwischen unglaublich schwül im Gerichtssaal mit den pastellrosa Wänden, als die Plädoyers einsetzen. In den monotonen Ausführungen des Verteidigers döst ein Richter aus dem Dreiergespann mehrfach weg. Viel erinnert nicht daran, dass hier nicht nur das Schicksal einer Familie verhandelt wird. Sondern dass es sich hier in mehrfacher Weise um einen speziellen Fall handelt, sogar einen Präzedenzfall, wie die Staatsanwältin sagt. Noch nie hatte eine zweite Instanz über den Straftatbestand der Zwangsheirat zu befinden. Zudem wird wichtig sein, dass das Gericht das Aussageverhalten der Töchter in die Beurteilung einbezieht. Dass das schrittweise Abrücken von den einstigen Anschuldigungen eben ein wichtiges Charakteristikum ist in diesem auf den Tag genau sieben Jahre alten Eintrag im Strafgesetzbuch.
Was bleiben, sind SMS. Etwa jenes, das der Vater kurz nach der Flucht verschickt hat: «Ich säubere meine Ehre mit dem Todesengel, wenn Du nicht abnimmst. Wir gehen in die Türkei», schrieb er seiner jugendlichen Tochter. Auch Aussagen von Schulkolleginnen und Lehrern halfen, die Aussagen der beiden Frauen zu objektivieren. Darauf konzentriert sich die Gerichtspräsidentin, und so hält sie am Ende fest: Ja, der Vater hat sich der versuchten Zwangsheirat schuldig gemacht, er hat sie eingesperrt und sie bedroht. Von den zweieinhalb Jahren Haft muss er ein halbes unbedingt verbüssen. Es bleiben nur etwa zwei Monate, vier hat er bereits in Untersuchungshaft abgesessen. Dazu kommen noch Genugtuungszahlungen. Wie sich das auf die Familie auswirkt, kann freilich niemand sagen.
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Typologie eines Verbrechens
Was ist eine Zwangsheirat?
Eine Studie des Bundes unterscheidet drei Muster. A: Eine Person wird unter Druck gesetzt zu heiraten. B: Man hindert eine Person daran, eine Liebesbeziehung ihrer Wahl zu leben. C: Man hindert eine Person daran, sich scheiden zu lassen.
Wer sind die Täter?
In 60 Prozent der Fälle, die von der Fachstelle Zwangsheirat bearbeitet werden, sind die Mütter die Haupttäterinnen. Ihre Art der Gewalt ist meist psychischer Natur. Eine Mutter droht etwa damit, sich umzubringen, wenn ihre Tochter die von den Eltern nicht gewollte Liebesbeziehung weiter führt. Väter üben eher brachiale Gewalt aus.
Woher stammen die Familien?
Vor allem aus Afghanistan, Syrien, Eritrea, Irak, Iran, Somalia, der Türkei und Pakistan. Auch die Roma-Gemeinschaft ist betroffen. Die Lage hat sich im vergangenen Jahrzehnt verändert. Vorher führten die Türkei, Sri Lanka und Kosovo die Liste der Problemländer an.
Wer sind die Opfer?
Vor allem Frauen, aber nicht nur. Jede fünfte Person, die Hilfe sucht, ist ein Mann. Die Dunkelziffer ist allerdings hoch, weil sich viele Männer nicht als Opfer sehen wollen. Zum Alter: Die Opfer werden immer jünger. Die Fachstelle Zwangsheirat stellt eine Zunahme von Jugendlichen fest, die bereits mit 14 oder 15 Jahren vermählt werden.
Wann findet die Tat statt?
Die statistisch riskanteste Zeit für die klassische Zwangsheirat sind die Sommerferien, wenn die Familien in ihre Heimatländer reisen. Manche Eltern machen vor der Abreise Andeutungen. Im Juni werden der Fachstelle Zwangsheirat deshalb jeweils besonders viele Fälle gemeldet. Die meisten stammen aktuell aus den Kantonen Basel-Stadt, St. Gallen, Bern und Zürich.
Was unternimmt die Justiz?
Die mit einer Zwangsheirat verbundenen Zwangshandlungen waren schon immer verboten. Seit 2013 ist zudem ein eigener Straftatbestand in Kraft. Seither gilt das Delikt als Verbrechen. Es kann nicht mehr nur als Vergehen eingestuft werden. Damit wurde das Strafmass erhöht. Zudem ist neu auch der Versuch einer Zwangsheirat strafbar. Bei der Polizei sind seit 2013 schweizweit 50 Anzeigen wegen Zwangsheiraten eingegangen. Bisher haben diese erst zu vier Verurteilungen geführt. Strafverfahren sind schwierig zu führen, weil der Druck der Familien auf die Opfer gross ist, zu schweigen.